In mehreren Veranstaltungen haben wir die Frage diskutiert, welche Bedarfe und Anforderungen Lehrende und Lernende an Infrastrukturen stellen, damit sie stärker genutzt werden. Welche sind nun aber die Pain Points, d.h. die Probleme oder Unzufriedenheiten, die Nutzerinnen und Nutzer davon abhalten, die Angebote in der beabsichtigten Weise zu nutzen?
Der Begriff „Pain Points“ (Schmerzpunkte) kommt aus der Betriebswirtschaft. Es handelt sich um ein spezielles Problem, das der Kunde mit einer gekauften Ware hat. Es muss aber nicht zwangsläufig mit der Qualität des Produkts zu tun haben. Eventuell hat sich die Interessenlage des Kunden geändert oder er möchte eine andere Lösung für einen persönlichen Mangel. Z.B. könnte ein Kunde weniger Fleisch kaufen, weil er sich gesünder ernähren will und nicht, weil die Qualität des Produkts schlechter geworden ist. Ein klassisches Beispiel für die Benennung eines Pain Points stellt eine Maßnahme der Fastfoodkette McDonalds dar, welche den Absatz der Milchshakes erhöhen wollte. Dazu wurden Kundinnen und Kunden zu Geschmack, Farbe und Viskosität der Milchshakes befragt. Nachdem sie alle Vorschläge umgesetzt hatten, stieg der Absatz der Milchshakes entgegen den Erwartungen nicht. Nach einer erneuten Marktanalyse, in der Kunden vor Ort befragt wurden, stellte McDonalds folgendes fest: Der Hauptgrund für den Verzehr von Milchshakes war, dass die Kunden morgens auf der langen Fahrt ins Büro etwas zu sich nehmen wollten, dass schnell und einfach im Auto verzehrt werden kann und gleichzeitig satt macht. Daraufhin machte McDonalds die Shakes noch sättigender und stellte Maschinen auf, um das Getränk ohne Wartezeit zu erwerben. Anschließend konnte tatsächlich eine Steigerung des Umsatzes festgestellt werden. Der Ansatz hier tiefer zu bohren, um die eigentlichen Bedürfnisse von Kundinnen und Kunden sowie Nutzenden zu verstehen, nennt sich der Jobs-To-Be-Done-Ansatz.
In der ersten Kampagne waren offensichtlich die falschen Fragen gestellt und deshalb auch die falschen Schlüsse gezogen worden. Es geht primär darum, das spezifische Problem von Nutzerinnen und Nutzern zu lösen. Ein Pain Point ist Ausdruck eines unerfüllten, bedeutsamen Bedarfs oder Bedürfnisses und nicht ein oberflächliches Problem oder gar eine Lösung, sondern ein Indikator für grundlegende Defizite zwischen Nutzererwartungen und bestehenden Angeboten. Dabei geht es darum, dieses zunächst vollständig zu verstehen, ohne sofort an Lösungen zu denken, welche dann Gefahr laufen können, das eigentliche Bedürfnis gar nicht zu befriedigen. Wichtig ist, dass aus den Pain Points der Lehrenden und Lernenden Gain Points werden, sodass die Nutzenden ihre Probleme durch die Verwendung der Infrastrukturen lösen können.
Stellen wir möglicherweise die falschen Fragen, wenn wir die konkreten Bedarfe von Lehrenden und Lernenden bei der Nutzung von Bildungsinfrastrukturen erfahren wollen? Geht es vielleicht gar nicht so sehr um eine mangelnde Qualität der Infrastrukturen, sondern nutzen Lehrende und Lernende ganz andere Kommunikationswege und Kollaborations-Tools als diejenigen, die wir Ihnen anbieten, wie etwa Foren? Unter Umständen ist die Infrastruktur gar nicht die Lösung für das individuelle Problem in der Schule oder Hochschule. Oder ist das Finden von OER gar nicht das Problem, sondern der Zeitmangel im Schulalltag, der gar keine Möglichkeit für das Suchen neuer Materialien zulässt?

Es gilt dabei sozio-kulturelle Barrieren (z.B. fehlende Kultur des Teilens und der Zusammenarbeit in Bildungsinstitutionen) und technische Barrieren (z.B vorhandene Infrastrukturen unterstützen zu wenig die Entwicklung kollaborativer Praktiken) miteinander zu verknüpfen.
In mehreren Workshops und Veranstaltungen im Rahmen des Projekts MOERFI konnten zusammen mit Lehrenden und Lernenden bildungsbereichsübergreifend aus Schule und Hochschule folgende erste Bedarfe/Pain Points zu Infrastrukturen und OER festgestellt werden, die sich wie Wünsche nach Lösungen sowie nach organisatorischer Unterstützung lesen:
Wünsche nach Lösungen:
• Einheitliche Metadatenstandards (auch didaktische) und Suchkriterien
• Unterstützung von KI bei der Suche, Lizenzierung, Erstellung, Redaktion und Qualitätssicherung von OER
• Plugins und Schnittstellen zwischen Lernmanagementsystemen (LMS) und OER-Repositories
• Unterschiedliche Import- und Exportformate und Templates
• Barrierefreiheit bei Inhalten wie Mindeststandard von Bildbeschreibungen, Untertitel, Kontraste, Schriftwahl
Wünsche nach organisatorischer Unterstützung
• Keine Einstiegshürden, wie Log-in, Intransparenz und schwierige Orientierung
• Motivation zur Nutzung von OER: Feedback, Honorierung durch Badges, Markierung guter Materialien, Like-Funktionen, Anzeige von Nutzungsfrequenz
• Didaktische Konzepte für Einsatzmöglichkeiten von OER und Open Educational Practices (OEP) in den Infrastrukturen
• Einbindung von OER als Thema und praktischer Arbeit (z.B. Abschlussarbeiten als OER) in die Lehrerausbildung, Referendariat und Fortbildungen
Doch genau hier zeigt sich das Dilemma: Diese Liste liest sich wie eine Sammlung von Lösungsvorschlägen – aber welche tieferliegenden Bedürfnisse stehen dahinter? Die Geschichte der McDonalds Milkshakes zeigt: Nur wenn wir bereit sind, die offensichtlichen Antworten zu hinterfragen und tiefer zu graben, werden wir Lösungen finden, die wirklich funktionieren – statt nur weitere Features zu produzieren, die das eigentliche Problem nicht lösen.
Eine wichtige Kritik aus den Workshops war der Hinweis, dass Infrastrukturen unbewusst pädagogische Entscheidungen vorwegnehmen können. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie eine offene Pädagogik und didaktische Innovationen hemmen. Dies führt zu einem interessanten Spannungsfeld: Während ein starker Fokus auf Qualitätsstandards möglicherweise Innovation einschränkt, könnten niedrigschwellige Bewertungssysteme wie Likes, Nutzungsfrequenz-Anzeigen und Kommentierungen das professionelle Vertrauen zwischen OER-Nutzenden stärken und offene pädagogische Ansätze fördern.
Die entscheidende Frage bleibt: Welche tieferliegenden Bedürfnisse verbergen sich hinter den geäußerten Wünschen nach technischen Lösungen und organisatorischer Unterstützung? Erst wenn wir diese verstehen, können digitale OER-Lernumgebungen zu einer selbstverständlichen Realität im Bildungsalltag werden – und nicht nur zu gut gemeinten, aber wenig genutzten Angeboten.
Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, genau hinzuschauen und aus Erhebungen und Berichten, die richtigen Fragen abzuleiten, um zu einer gelungenen neuen Realität beitragen zu können.
AG Pain Points der OER-Beirats (Martin Christian, Prof. Dr. Konrad Faber, Dr. Susanne Friz, Noreen Krause, Prof. Dr. Dominic Orr)