Podcast „Bildung, Lebenssinn und Technologie – wie KI und OER helfen können“ Teil 3: Mündige Menschen mit und trotz KI Andreas Dengel (AD): So, wie wir mit Computern groß geworden sind, mehr oder weniger, so werden jetzt die Folgegenerationen natürlich mit KI groß. … Diese Angst kommt ja im Prinzip vom Kontrollverlust. Wir leben in einer Welt, in der wir nichts mehr selbst bestimmen können. … Dann befinden wir uns einfach in einem großen, weltweiten Zoo. Wir lassen die KI alles für uns entscheiden. Wir lassen uns von der KI füttern, unsere Nahrung produzieren und so weiter. … Das macht sehr viel natürlich mit Schulbildung, weil das setzt natürlich voraus, dass wir ganz andere Dinge in der Schule lernen, die wir später in unser dann von KI geprägtes Leben mitnehmen werden. Sprecher: „Bildung, Lebenssinn und Technologie - wie KI und OER helfen können.“ Eine Interviewreihe in drei Teilen. Kurz zum Hintergrund: Das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend möchte das digitale Lehren und Lernen weiterentwickeln, besonders in Schulen, aber auch entlang der gesamten Bildungsbiografie. Dafür gibt es die sogenannte OER-Strategie. OER steht für Open Educational Resources, also offene Bildungsmaterialien. Das sind digitale Werkzeuge und Inhalte, die unter einer offenen Lizenz verfügbar sind. Das heißt, sie sind nicht nur kostenlos zugänglich, sondern können auch bearbeitet, weiterverarbeitet und weitergegeben werden. Und das entweder ganz ohne oder mit nur wenigen Einschränkungen und Vorgaben. Dann gibt es noch die OEP. Das sind die Open Educational Practices, also offene Bildungspraktiken, die sozusagen die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen, um OER zu erstellen, zu nutzen oder zu verbreiten. In diesem Kontext spielt in Zukunft das Thema KI eine wichtige Rolle. Wie also können jetzt KI, OER und OEP zusammen gedacht werden und wie können diese idealerweise glückliche Menschen bilden? Genau darum geht es in dieser Interviewreihe. Herzlich willkommen zu Teil 3: “Mündige Menschen mit und trotz KI”. Lisa Mattil-Krause (LMK): Mein Name ist Lisa Krause. Ich bin vom DLR Projektträger und ich sitze hier heute nicht alleine. Bei mir ist Andy Dengel. Hallo Andy. Andreas Dengel (AD): Hi, danke für die Einladung. LMK: Es ist total schön, dass du heute hier bist. Du bringst ganz viel Know-how mit aus dem Bereich KI, denn du bist an der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Professor für Informatikdidaktik. Du hast früher mal als Informatiklehrer gearbeitet. AD: Richtig. LMK: Und heute machst du was ganz anderes: Heute bist du Professor. Deine thematischen Schwerpunkte, das sind immersives Lernen und Medienbildung. Aber du machst auch trotzdem noch etwas mit Schule: Du engagierst dich da gerade auch für die Einführung des neuen Schulfachs “Digitale Welt” in Hessen. Da bist du universitärer Partner. AD: Genau. LMK: Und wir sprechen über ein ganz spannendes Thema. Sprecher: Künstliche Intelligenz verändert die gesamte Welt und das hat Auswirkungen auf den Bereich Bildung. Unsere Schulen sind schon jetzt ganz neuen Anforderungen ausgesetzt, wenn es darum geht, glückliche und mündige Menschen zu bilden. Darüber haben wir in den ersten beiden Teilen dieser Interviewreihe gesprochen. Aber was passiert jetzt, wo künstliche Intelligenz uns so viele neue Möglichkeiten bietet? Wie könnte unsere technologisierte Zukunft aussehen? Das besprechen wir jetzt. LMK: Heute kann KI schon richtig viel. Sie ist im Alltag ganz einfach zugänglich. Sie kann uns ganz viele Fragen beantworten. Sie kann richtig Probleme für uns lösen. Ich frag dich mal ganz provokant: Brauchen wir denn in so einer Konstellation Schule überhaupt noch? AD: Das ist natürlich eine ganz spannende Frage. Vor allem vor dem Hintergedanken, dass KI das Denken übernehmen kann, übernehmen soll. Wir bauen diese Systeme ja genau so, dass sie eben kognitive Prozesse simulieren können. Lass mich mal ein Alternativszenario Szenario vorstellen: Wir können ja mal 10, 20, 100, 200 Jahre in die Zukunft denken. Wir können dann immer mehr automatisieren, so dass wir selbst als Menschen eigentlich gar nichts mehr tun müssen. Wir können uns nur noch auf die Freuden des Lebens konzentrieren und einfach nur noch unseren Hobbys nachgehen und die KI übernimmt alles andere. Dann befinden wir uns einfach in einem großen, weltweiten Zoo. Naja, im Endeffekt lassen wir die KI alles für uns entscheiden. Wir lassen uns von der KI füttern, unsere Nahrung produzieren und so weiter und alles von der KI einfach übernehmen - alle Entscheidungsprozesse. Warum sollten wir uns denn auch selbst irgendwie noch abmühen? Vielleicht kann eine KI auch bessere politische Entscheidungen treffen, weil sie nicht an irgendwelche Legislaturperioden gebunden ist, weil sie keine persönlichen Ziele verfolgt? Also warum sollten wir Menschen uns überhaupt noch abmühen? LMK: Ich glaube, das ist eine große Angst, die viele da gerade schon haben. AD: Und dann ist die Frage: Woher kommt denn diese Angst? Diese Angst kommt ja im Prinzip vom Kontrollverlust. Wir leben in einer Welt, in der wir nichts mehr selbst bestimmen können. Und ich glaube, weil wir Menschen den Anspruch haben, dass wir mehr sind als Zootiere, genau deswegen brauchen wir keine Angst haben, dass uns die KI komplett ersetzt. Weil wir das auch, so glaube ich zumindest, niemals zulassen würden. Das macht aber sehr viel mit Schulbildung, weil das setzt natürlich voraus, dass wir einfach ganz andere Dinge in der Schule lernen, die wir dann später in unser dann von KI geprägtes Leben mitnehmen werden. LMK: Aber was ist es denn dann? Was konkret muss die Schule leisten? AD: Neben dem Verständnis für diese Technologien ist natürlich auch wichtig, dass wir dann auch darüber reflektieren können, was wir damit tun können und später auch, was wir damit tun wollen. Weil wohin sich die Welt entwickelt, wohin sich die Gesellschaft entwickelt - das können wir jetzt noch nicht vorhersagen. Aber wir wissen, dass die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger von morgen natürlich jetzt in den Schulen sitzen. Und dafür ist es wichtig, dass wir dieses Verständnis geschaffen haben, dass wir die Reflexionsfähigkeit haben - nicht nur über diese Technologien, sondern auch über die Wechselwirkung mit der Welt, mit allen Herausforderungen, die wir haben. Zum Beispiel die Ziele für nachhaltige Entwicklung. Da haben wir ganz viele Wechselwirkungen mit der Technologie, mit den Neuerungen. Und wir müssen gucken: Was wollen wir denn jetzt mit diesen Technologien? Wollen wir eine Welt, in der wir der menschliche Zoo sind? Oder wollen wir eine Welt, in der wir gemeinsam eine Symbiose mit diesen Technologien bilden? Wir hatten schon mal ganz kurz diesen Begriff der “Augmented Intelligence” angeteasert - dass wir gemeinsam leben mit diesen Technologien und für uns selber klar werden: Wo wollen wir denn hin? Wo wollen wir diese Werkzeuge verwenden, um uns als Menschheit weiterzubringen? LMK: Aber wenn wir jetzt schon mit diesen Systemen aufwachsen, haben wir denn dann auch noch diesen Respekt vor den Systemen, mit denen wir da groß werden? Ich meine, wir sind ja jetzt in einer Welt ohne KI groß geworden und dann ist KI neu dazugekommen. Das betrachten wir natürlich ein bisschen skeptisch. Wie ist das denn für die Kinder, für die das von Anfang an mit dazugehört? AD: Gut, von der Perspektive ist es erst einmal nicht anders als jede andere Technologie. So wie wir mit Computern groß geworden sind, so werden jetzt die Folgegenerationen natürlich mit KI groß. Es ist nur wichtig, dass wir sehr frühzeitig eine Bildung über Technologie - und ich spreche ganz konkret von Unterrichtsfächern wie “Digitale Welt” oder Informatik - auch tatsächlich in das Bildungssystem reinbringen, damit wir verstehen: Wie funktionieren diese Systeme denn überhaupt? Weil nur wenn wir verstehen, was unter der Motorhaube passiert, dann können wir auch wirklich darüber reflektieren. Und zum Beispiel bei KI-Systemen ist es so, dass Kinder ganz starke Fehlvorstellungen haben. Wir haben mal eine Studie durchgeführt, da haben wir Kindern aus verschiedenen Jahrgangsstufen - aus einer fünften, aus einer achten und aus einer elften Klasse - verschiedene KI-Systeme gezeigt. Das waren sowohl Textgeneratoren, Bildgeneratoren, aber auch Systeme mit verstärkendem Lernen - das heißt Systeme, die sich einfach selbst verbessern, zum Beispiel wenn sie lernen ein Spiel zu spielen oder so. Und wir haben die Kinder gefragt: Was glaubst du, wie funktioniert das? Und man hat gesehen, dass gerade junge Kinder ganz starke Fehlvorstellungen haben. Und da war die häufigste Vorstellung, dass wirklich ein Mensch auf der anderen Seite sitzt. Am Anfang haben wir das nicht geglaubt. Wir haben wirklich ganz viele qualitative Antworten gesammelt von den Schülerinnen und Schülern und haben das dann analysiert. Und die allermeisten dachten wirklich, da sitzt ein Mensch auf der anderen Seite. Weil sie konnten sich das nicht anders erklären - sowas wie Kreativität zum Beispiel beim Texte schreiben. Das Beispiel war, dass eine Geschichte über ein bestimmtes Tier geschrieben wurde. Und deswegen ist ganz wichtig, dass wir hier selbst in Grundschulen schon informatische Bildung reinbringen, dass dieser Blick unter die Motorhaube sehr früh geschult wird. LMK: Und diese KI-Systeme, die so viel können und mit denen die Kinder jetzt ganz natürlich aufwachsen, wie funktionieren die? Wie würdest du das jetzt einem Kind erklären? AD: Na ja, machen wir es ganz einfach. Zum Beispiel Textgeneratoren - die kennen jetzt gerade die meisten, weil eben diese Sprachmodelle wie ChatGPT gekommen sind. Und eine große Fehlvorstellung ist, dass sie funktionieren wie eine Suchmaschine, also dass sie live das Web durchsuchen und dann die beste Antwort rausfinden. Aber im Grunde kann man sich diese Systeme vorstellen wie gigantische mathematische Formeln. Und diese gigantischen mathematischen Formeln tun nichts anderes als Wahrscheinlichkeiten berechnen, und zwar Wortwahrscheinlichkeiten. Sie sagen mir also zu meinem Prompt passend das nächstwahrscheinliche Wort vorher. Du bist jetzt mal mein ChatGPT. LMK: Ja. AD: Und du ergänzt mir einfach folgenden Satz: “Hallo, alles Gute zum…” LMK: Geburtstag. AD: Gut, du hattest jetzt sofort den Geburtstag im Kopf. Warum hattest du den Geburtstag im Kopf? LMK: Das ist glaube ich der häufigste Anlass, zu dem man gratuliert. AD: Richtig. Es hätte jetzt aber genauso gut der Muttertag sein können. Es hätte genauso gut der Hochzeitstag sein können. Aber die meisten Menschen haben mehr Geburtstage als sie Hochzeitstage haben. Und deswegen hast du natürlich in deinem episodischen Gedächtnis sofort gekramt und geschaltet… LMK: Das muss der Geburtstag sein… AD: Das muss der Geburtstag sein. Und es war letztlich das Wahrscheinlichste. Okay, machen wir ein anderes Beispiel: “Süßes oder…” LMK: Saures. AD: Okay. Auch ganz selbstverständlich für uns. Aber was, wenn ich den Kontext verändere? Wir sind gerade im Kino und ich hole uns eine Tüte Popcorn. Willst du Süßes oder … LMK: Salziges? AD: Ja. Das, was unser Gehirn hier in Bruchteilen von Sekunden richtig vorhersagt, das versuchen wir zu simulieren in diesen neuronalen Netzen. Und diese neuronalen Netze sind ja letztlich angelehnt an die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Auch wir haben natürlich Neuronen, die unter bestimmten Bedingungen feuern. Und das versuchen wir eben digital darzustellen. Und so kann man das aber auch einem Kind erklären, weil jedes Kind hat natürlich auch Assoziationen, wenn es um Wortergänzungen geht zum Beispiel. LMK: Du hast jetzt gerade erklärt, diese künstliche Intelligenz hat ganz viel mit menschlicher Intelligenz zu tun. Aber da gibt es doch sicher auch Unterschiede. AD: Ja, es gibt im Moment noch sehr viele Unterschiede. Also es liegt vor allem daran, dass wir bis heute noch nicht hundertprozentig wissen, wie menschliche Intelligenz funktioniert. Wir tun immer so, als wäre das eine fertige Wissenschaft. Dabei sind wir gerade in der Neurowissenschaft noch ganz am Anfang. Aber es gibt jetzt schon ganz zentrale Unterschiede: Auf der einen Seite sind das die ganzen Emotionen, die wir als Menschen haben. Auch hier gibt es natürlich schon Forschungsbestrebungen, die sagen: Wir versuchen Emotionen zu simulieren, letztlich auch nur als Variablen - das nennt sich dann “Affective Computing”. Also wenn ein bestimmter Gedanke kommt in dieses Netz, dann steigert das die Emotion Wut oder dann steigert das die Emotion Hoffnung. Und je nachdem, wie diese Variablen ausgeprägt sind, triggert das wiederum andere Gedanken. So ähnlich wie das bei uns Menschen eben auch funktioniert. Aber auch das können wir natürlich nur bis zu einem gewissen Grad simulieren. Und ein ganz anderes Ding ist natürlich die Frage des Bewusstseins. Und das ist ja Thema von vielen Science-Fiction-Serien, dass dann Maschinen auf einmal Bewusstsein bekommen. Wann bekommen wir überhaupt Bewusstsein? Das sind alles Fragen, die haben wir noch gar nicht geklärt und deswegen gibt es noch sehr viel, was diese Systeme nicht können. Eine Sache, die auch immer den Systemen vorgeworfen wird, ist, dass sie nicht kreativ sein können. LMK: Aber ist das denn wirklich so? Du hast ja in dieser Interviewreihe schon ein Beispiel gebracht, dass diese Maschinen wirklich Bilder generieren können, Musik erstellen können. Ist das denn nicht kreativ, was die da machen? AD: Jetzt muss man schauen: Woraus erstellen die das denn? Hier kommen wieder die Trainingsdaten ins Spiel. Wir haben in einer anderen Folge mal über den Zusammenhang von Trainingsdaten mit dem Lernen dieser Systeme gesprochen. Und diese ganzen Trainingsdaten werden natürlich verwendet, um vorherzusagen, welche Farbe zum Beispiel in einem bestimmten Bild vorkommt oder wie die Formen in einem bestimmten Bild aussehen. Letztlich machen wir Menschen aber auch nichts anderes. Und deswegen ist diese ganze Kreativitätsdiskussion natürlich eine sehr große und auch emotional aufgeladene. Wir haben Erfahrungen gemacht. Wenn wir zum Beispiel in der Kunst sind, dann haben wir auch sehr viele Inspirationen von anderen Künstlern gehabt. Wir haben viele andere Bilder gesehen und machen dann unser eigenes Ding daraus. Und jetzt ist das Spannende: Was ist denn dieser kreative Moment in uns Menschen? Und das ist im Endeffekt unsere eigene Lebensgeschichte. Unsere eigene Lebensgeschichte ist das, was uns kreativ macht. Und das fehlt tatsächlich einer KI. Das merkt man zum Beispiel, wenn man sich Songtexte generieren lässt. Man muss sich vorher eine Geschichte überlegen, eine individuelle Egogeschichte dieses Systems, weil sonst bleibt diese Kreativität aus. Das heißt aber nicht, dass wir nicht verschiedene andere Dinge kombinieren können - dass wir keine Ideen kombinieren können, dadurch zu neuen Schlussfolgerungen kommen können und deswegen auch neue Bilder, neue Musik, neue Videos generieren können. Aber dieser kreative Momente, der eben in unserem eigenen Ego schlummert sozusagen, den bekommen wir aus einer KI nicht raus. LMK: Den müssen wir quasi selber an die KI weitergeben, damit die KI wirklich künstlerisch etwas erschafft. AD: Genau, weil die KI ist im Prinzip ja nichts anderes als ein stochastischer Generalist. Also sie kann alles, aber sie braucht eben immer noch diesen Input. Sie braucht diesen Input vom Menschen, damit sie weiß, in welche Richtung sie überhaupt loslaufen muss. LMK: Aber trotz allem, also obwohl die KI diesen Input braucht, liefern uns diese ganzen KI-Systeme ganz einfach und wahnsinnig schnell sehr viele Materialien. Wie können wir damit umgehen, wenn wir weiterhin am Hebel bleiben wollen? Wenn wir weiterhin als mündige Menschen dafür verantwortlich sein wollen, was wir da tun und womit wir arbeiten? AD: Im Grunde genommen müssen wir diese Systeme verstehen. Und da mache ich immer ganz gerne den Schwenk zum Pilotfach “Digitale Welt”, das wir gerade in Hessen ausprobieren. Hier nehmen wir nämlich mehrere Perspektiven ein. Und das Ganze basiert auf einem Modell, das heißt Dagstuhl-Dreieck. Und ähnlich wie die Gesellschaft für Informatik, die dieses Modell veröffentlicht hat, nehmen wir eben verschiedene Perspektiven auf digitale Phänomene ein, zum Beispiel eine technologische Perspektive. Darüber haben wir vorhin schon kurz gesprochen, dieser Blick unter die Motorhaube, um zu verstehen: Was passiert da eigentlich? Was hat es mit diesen Trainingsdaten auf sich? Was hat es mit diesen Wahrscheinlichkeiten auf sich? Was hat es mit diesen neuronalen Netzen, mit diesen verschiedenen Prinzipien auf sich? Auf der anderen Seite haben wir aber natürlich auch die Möglichkeit, das Ding für uns selbst zu nutzen. Das ist die anwendungsbezogene Perspektive. Also wir wollen tatsächliche Anwendungen einer neuen Technologie, zum Beispiel KI. Das werden noch ganz viele andere Technologien sein, die nachher folgen werden. Aber wie können wir das für uns selber nutzen? Das ist so die Anwendungsperspektive. Was mache ich damit im Beruf? Was mache ich damit im Alltag? Und dann ist natürlich auch wichtig, zu verstehen: Was macht das eigentlich mit mir selbst? Was macht das mit der Gesellschaft? Was macht das mit der Umwelt? Wir haben ja auch ganz viele Faktoren drin. Das nennen wir Wirkungsperspektive oder gesellschaftlich-kulturelle Perspektive, wenn wir uns ansehen: Was macht denn ein bestimmtes technologisches Phänomen eigentlich mit dem Ganzen um uns herum? LMK: Das bedeutet, wir müssen einfach immer wieder hinterfragen, was wir da eigentlich tun. Und das ist auch ein Inhalt, der müsste an die Schulen kommen: Damit die Kinder das von klein auf lernen und damit sie so groß werden, dass sie immer wieder ihre technische Umgebung hinterfragen. AD: Natürlich, wir werden KI immer als Werkzeug haben ab jetzt. KI wird nicht mehr weggehen. Man sagt immer ganz gerne: Technologische Innovation ist eine Einbahnstraße. Wenn eine technologische Innovation sinnvoll ist und einen bestimmten Zweck erfüllt, dann wird diese technologische Innovation nicht mehr weggehen, außer sie wird durch eine andere ersetzt. Die Dampfmaschine ist wieder ersetzt worden durch andere Technologien. Der CD-Player ist wieder ersetzt worden durch andere Technologien. Und so weiter und so fort. LMK: Aber würde dann das Wissen über die Technologie zur neuen Allgemeinbildung gehören, die die Schüler erlernen müssten? AD: Unter anderem natürlich. Es ist nicht das Einzige, was Schülerinnen und Schüler lernen müssen. Aber es wird auf jeden Fall - es muss und müsste schon lange ein verpflichtender Bestandteil sein. LMK: Es gibt ja auch noch dieses japanische Konzept “Ikigai” - darüber haben wir schon gesprochen im zweiten Teil dieser Interviewreihe. Da geht es um den Menschen, ums Glücklichsein, um individuelle Interessen, um Begabungen. Wie kann uns das denn jetzt helfen dabei, dass wir mündig bleiben und dass wir konstruktiv die Systeme nutzen, die wir jetzt zur Verfügung haben? AD: Eine der großen Hoffnungen hinter KI ist natürlich, dass sie uns das Leben so weit vereinfacht und uns unterstützt in unseren Lebensbereichen, dass wir eben unseren individuellen Interessen, unseren Hobbys nachgehen können und dass wir tatsächlich einen für uns sinnvollen Lebensweg finden, was ja letztlich das Ikigai-Konzept auch aussagt. Genau diese Lebenswege, da kann uns eben die Technologie auch unterstützen, weil zum einen können wir durch Technologie natürlich individuelle Lehrmaterialien erzeugen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch Bildungsinhalte so anpassen, dass sie uns darauf vorbereiten, dass wir diese Technologien später in unserem Alltag einsetzen. Hier sehen wir wieder eine Wechselwirkung zwischen Bildung und Technologie. Und ich glaube, dass gerade da natürlich KI unterstützen kann, indem KI uns zum Beispiel Bildungsmaterialien bereitstellt, bei denen wir sagen: Die dienen zur Begabungsförderung, die dienen zur Individualisierung. LMK: Aber nicht nur KI - da können auch offene Bildungsmaterialien helfen. AD: Im Endeffekt ist es natürlich eine Wechselwirkung, weil die Bildungsmaterialien, die wir bereitstellen... Es hat einen Grund, warum Bildung im EU AI Act als Hochrisikobereich gesehen wird. Wir wollen natürlich nicht rein von einer KI erstellte Bildungsmaterialen, weil alle diese Systeme sind geprägt. Alle diese Systeme sind durch Stereotype geprägt. Sie sind durch Bias geprägt, durch sauber ausgewählte Daten, die einen bestimmten Zweck verfolgen. Und da können politische Ansichten dahinter stecken, da kann alles Mögliche dahinter stecken. Das heißt, Bildungsmaterialien müssen nach wie vor irgendwie administriert werden. Sie müssen nach wie vor von Lehrpersonen mindestens geprüft werden, damit sie tatsächlich auch einen bestimmten Zweck erfüllen. Und genau hier kommen die OEPs und die OERs ins Spiel. Weil das sind Bildungsmaterialien, die wurden von Menschen entwickelt, vielleicht in Zusammenarbeit mit einer KI. Das ist in dem Fall völlig egal, wie es entwickelt wurde, aber sie wurden geprüft von pädagogischen Expertinnen und Experten. Es hat ja auch einen Grund, warum zum Beispiel Schulbücher einen ganz, ganz langen Prüfprozess durchlaufen, bis sie für Bildung zugelassen werden. Und KI kann uns unterstützen, diese Materialien auszuwählen - dass wir in einer gigantischen Landschaft von Millionen und Abermillionen OERs und OEPs genau die richtigen, für den Lernprozess des Individuums passenden Materialien auswählen. Da kann KI unterstützen, da können intelligente tutorielle Systeme unterstützen, da kann die Lehrperson in Zusammenarbeit mit diesen Systemen unterstützen. Wir haben schon darüber gesprochen: Lehrpersonen werden Data Analysts, Lehrpersonen werden Learning Analysts. Und genau hier kommt das wieder ins Spiel - sozusagen die Zusammenarbeit der pädagogischen Expertise mit datengestützten Prozessen. LMK: Das bedeutet, wir haben ganz, ganz viele Möglichkeiten, aus denen wir schöpfen können. Aber was müssten wir denn mit denen heute tun, damit wir eine gute Bildung der Zukunft bekommen? Dass wir unser Bildungssystem positiv revolutionieren und entwickeln? AD: Wenn wir noch mal diesen Schwenk zu diesem schönen japanischen Konzept machen, dann sehen wir, dass wir hier verschiedene Orientierungen haben. Und diese Orientierungen sind nicht neu für das Bildungssystem, zum Beispiel Begabungsorientierung: Wir wollen, dass die Menschen dem folgen, was sie gut können. Interessensorientierung: Wir wollen, dass die Menschen dem folgen, was sie wirklich selber interessiert, was sie lieben. Wertorientierung: Wir wollen, dass die Menschen dem folgen, was ihnen wichtig ist. Und wir haben natürlich auch Bedürfnisorientierung: Dass die Menschen dem folgen, was sie selbst brauchen. Und all diese Konzepte - Begabungsorientierung, Interessensorientierung, Wertorientierung, Bedürfnisorientierung - die sind nicht neu. Aber wir haben jetzt eben die Möglichkeiten durch KI. Und wenn wir eine solche Schule, du hast das so nett als “Ikigai-Schule” bezeichnet, die eben genau diese vier Säulen verfolgt, oder in dem Fall sind es eben vier Perspektiven auf Bildung, dann kann uns eben die Technologie genau dabei unterstützen, indem wir zum Beispiel sagen: Die KI hilft uns, diese Materialien auszuwählen, um begabungsorientiert zu fördern. Die KI hilft uns, die Materialien anzupassen, damit sie zu den Interessen passen. Die KI hilft uns zum Beispiel, Kollaborationspartner für Projekte zu finden oder Projektideen und Projektimpulse zu geben, damit wir wertorientiert gemeinsam einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen können, indem wir so ein Projekt umsetzen. LMK: Das sind ganz viele Möglichkeiten, die sich da auftun. Hast du zum Schluss noch eine Botschaft? Gibt es etwas, was wir auf jeden Fall tun sollten mit KI in Zukunft? AD: Das Wichtigste im Moment ist glaube ich einfach, dass wir diese Systeme auch tatsächlich nutzen. Dass wir keine Angst vor diesen Systemen haben und sie wirklich selbst verwenden. Weil dadurch verstehen wir, was diese Systeme können, wo die Grenzen der Systeme sind und auch, wo es hingeht. Weil ich keine Prognose geben kann für alle Berufe, aber jeder Mensch in seinem Erfahrungsbereich kann das glaube ich sehr gut tun - wenn diese Systeme mal genutzt werden. Und wenn man hier wirklich Produkte erzeugt, wirklich sich selbst mal in die Gestaltung einlässt, dann glaube ich, kann man Erfahrungen machen, die - ich sage mal groß gesprochen - die Zukunft der Menschheit auch wirklich so bestimmen können, weil jeder und jede einzelne bestimmt natürlich, wie sich der eigene Bereich weiterentwickeln wird. LMK: Also einfach mal ausprobieren. Aber was genau sollte ich ausprobieren? Was muss ich alles testen? AD: Müssen tust du natürlich gar nichts. Aber es ist schon heute so, dass wir ganz viele frei verfügbare KI-Systeme haben. Je nachdem wofür man sich interessiert: Textgenerierung, Musikgenerierung, Videogenerierung, Bildgenerierung. Einfach mal die Suchmaschine deiner Wahl anwerfen und mal eingeben: Bildgenerierung KI. Und dann bekommt man automatisch eine Menge Tools vorgeschlagen. Es lohnt sich auch tatsächlich, vorher mal Tutorials anzuschauen, um einfach mal zu sehen, wie machen das denn Profis? Wir machen das Leute, die Prompts schreiben? Worauf muss ich bei den Prompts achten? Sich hier einfach mal auf dem Videoportal deiner Wahl auch Einsteiger-Tutorials anschauen. Es nutzt aber auch was, einfach mal aufmerksam durch die Welt zu gehen und aufmerksam deine eigenen digitalen Geräte zu nutzen. Weil KI ist viel häufiger schon tatsächlich in Verwendung, als wir es eigentlich merken. Und zwar in den ganzen sozialen Medien, bei Partnerbörsen, bei allem möglichen wird KI verwendet. Selbst dein Streamingdienst hat KI mit eingebaut, weil er dir natürlich Empfehlungen gibt und er lernt aus deinem Verhalten und er lernt aus dem Verhalten von anderen. Und genau das ist eben auch so ein Punkt. Einfach mal aufmerksam schauen: Wo sehe ich denn diese Muster? Wo sehe ich dieses: Hier wird aus Daten gelernt? Und dieses aus Daten lernen, das ist ja das, was wir letztlich verstehen wollen. Und ich glaube, dadurch können wir sehr viel über die Systeme lernen, aber auch über uns lernen, wie wir mit diesen Systemen interagieren. LMK: Also es liegt an uns als Menschen. Wir müssen uns jetzt einfach mit der Technik beschäftigen. Wir müssen den Mut haben, wir müssen es einfach mal ausprobieren - gucken was geht, gucken, was nicht geht. Aber trotzdem weiterhin auch etwas tun für uns und für unsere Bildung und für unsere Mündigkeit vor allem. Wir müssen weiterhin am Hebel bleiben. Wir müssen selber gestalten und dann können wir das alles, was jetzt möglich ist durch künstliche Intelligenz, dann können wir das als Chance nutzen. Als Chance, unser Bildungssystem weiterzuentwickeln, damit es besser zu uns passt. Zu uns als Individuen, als eigenverantwortliche Menschen. Vielen Dank Andi, dass du hier warst und einiges erzählt hast. AD: Vielen Dank für die Einladung. LMK: Das ist das Ende von unserer dreiteiligen Interviewreihe. Wir haben noch zwei weitere Teile, die sind online verfügbar auf der Webseite www.oer-strategie.de und dort finden Sie auch ganz allgemein weitere Informationen zum Thema OER-Strategie und offene Bildungsmaterialien. Danke für Ihr Interesse. Sprecher: “Bildung, Lebenssinn und Technologie - wie KI und OER helfen können”. Eine Produktion der Sendeeinheit im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.