Podcast „Bildung, Lebenssinn und Technologie – wie KI und OER helfen können“ Teil 2: Die Ikigai-Schule Andreas Dengel (AD): In der empirischen Bildungswissenschaft sprechen wir von einer psychologischen Suppe. Das sehen wir natürlich im Bildungsbereich ganz stark, dass wir von so vielen Kontextfaktoren geprägt sind. … Schulen nicht von außen raus denken, nicht von “Welche Berufe müssen diese Menschen später tun können?”, sondern von innen heraus denken. … KI kann hier wirklich helfen, in die Details zu gehen und Lernwege für Schülerinnen und Schüler zu generieren. … Ich glaube, es wäre zu viel gesagt, wenn wir Schülerinnen und Schüler dazu befähigen können, dass sie auf jeden Fall ihren riesigen Lebensweg finden danach. Aber wir können zumindest Werkzeuge an die Hand geben, wie sie ihren Lebensweg finden können. Sprecher: „Bildung, Lebenssinn und Technologie - wie KI und OER helfen können.“ Eine Interviewreihe in drei Teilen. Kurz zum Hintergrund: Das Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend möchte das digitale Lehren und Lernen weiterentwickeln, besonders in Schulen, aber auch entlang der gesamten Bildungsbiografie. Dafür gibt es die sogenannte OER-Strategie. OER steht für Open Educational Resources, also offene Bildungsmaterialien. Das sind digitale Werkzeuge und Inhalte, die unter einer offenen Lizenz verfügbar sind. Das heißt, sie sind nicht nur kostenlos zugänglich, sondern können auch bearbeitet, weiterverarbeitet und weitergegeben werden. Und das entweder ganz ohne oder mit nur wenigen Einschränkungen und Vorgaben. Dann gibt es noch die OEP. Das sind die Open Educational Practices, also offene Bildungspraktiken, die sozusagen die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen, um OER zu erstellen, zu nutzen oder zu verbreiten. In diesem Kontext spielt in Zukunft das Thema KI eine wichtige Rolle. Wie also können jetzt KI, OER und OEP zusammen gedacht werden und wie können diese idealerweise glückliche Menschen bilden? Genau darum geht es in dieser Interviewreihe. Herzlich willkommen zu Teil 2: “Die Ikigai-Schule”. Lisa Mattil-Krause (LMK): Hallo, mein Name ist Lisa Mattil-Krause. Ich bin vom DLR Projektträger und ich sitze heute im Studio mit Andy Dengel. Hallo! Es ist sehr schön, dass du heute hier bist. Andreas Dengel (AD): Hi. Schön, hier zu sein. LMK: Andy, du forschst und du lehrst aktuell an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Du bist da Professor für Didaktik der Informatik. Und was sind deine Schwerpunkte? AD: Meine Schwerpunkte sind relativ breit gestreut. Ich komme ursprünglich aus dem ganzen Bereich Virtual Reality und habe mich dann nochmal breiter aufgestellt mit allem Möglichen, was innovative Bildungstechnologien angeht - also unter anderem Lernvideos und Flipped Classroom und natürlich jetzt auch seit ein paar Jahren KI. Das heißt, hier haben wir ganz viele verschiedene Schwerpunkte. Wir beschäftigen uns unter anderem aber auch mit Informatik ohne Strom, Computer Science Unplugged und versuchen hier ganz viele Bildungstechnologien und auch Unterrichtsmethoden zusammenzubringen. Das heißt, wir denken nicht nur von der technologischen Seite, sondern von einer gesamtpädagogischen Seite. LMK: Und darum geht es heute: Sprecher: Wir gehen jetzt zusammen in die Schule. Schule war früher etwas ganz anderes als heute. Vergleicht man das damit, was heute in Schulen passiert, stellt man fest: Es hat sich einiges getan in den letzten Jahren. Aber Schule wird sich weiterentwickeln - nicht zuletzt dank neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz. Wie passt dazu jetzt ein uraltes Konzept aus Japan? Bei “Ikigai” geht es grob gesagt darum, wie man für sich persönlich einen Sinn im Leben finden kann. Aber wie kann man das mit Schule zusammenbringen? Kann die Schule der Zukunft dank KI vielleicht eine Ikigai-Schule werden? Und was ist das überhaupt? Darüber wollen wir jetzt sprechen. LMK: Wenn man sich diese ganzen Entwicklungen anschaut, die sich technisch tun, da ist dir ja wahrscheinlich auch schnell klar geworden: Die Schule muss sich anpassen, damit sie mit der Zeit geht, damit sie das alles nutzen kann, was da passiert. Es gibt verschiedene Ansätze, die sich damit beschäftigen, wie man denn jetzt diesen Wandel nutzen kann. Einen schauen wir uns heute genauer an. Der basiert auf einem Konzept, das kommt aus Japan und heißt “Ikigai”. Was genau ist das für ein Konzept? AD: Wir müssen bevor wir in dieses Konzept einsteigen erst einmal den Rahmen stecken. Ich glaube, wir dürfen nicht immer Bildungstechnologien einfach nur in den Klassenraum werfen und gucken, was passiert. Wir müssen immer mehrere Dinge zusammen denken. Wir müssen einmal denken: Was passiert eigentlich gerade in der Welt? Und das ist unter anderem natürlich der technologische Wandel. Das sind aber auch ganz andere Dinge wie der Klimawandel und verschiedene Herausforderungen, die wir einfach als Gesamtgesellschaft haben. Dann wechselwirkt das natürlich zum Beispiel mit neuen Entwicklungen wie KI oder Virtual Reality. Wir haben verschiedene technologische Advances in ganz verschiedenen Bereichen und das wechselwirkt dann wiederum mit Bildung. Also wir bewegen uns hier nicht in einem luftleeren Raum, sondern wir sind in dieses Geflecht zwischen Weltgeschehen, zwischen Technologie und Bildung eingebettet. Und Bildung ist ja auch so ein besonderer Begriff im Deutschen. Die Bildung ist ja eigentlich der Mensch - also die Menschen-Bildung ist das, was uns interessiert. Und da kommen wir auch gleich zu diesem Ikigai-Begriff, weil genau darum geht es: Es geht um den Menschen. Und Ikigai kommt aus dem Japanischen und heißt sozusagen “Weg des Lebens oder Sinn des Lebens finden”. “Iki” steht sozusagen für Leben und “Gai” für Wert oder Nutzen. LMK: Das ist aber schon ein sehr altes Konzept. Also darüber redet man ja schon sehr lange. AD: Genau. Das ist ein sehr, sehr altes Konzept, was tief in der japanischen Kultur verankert ist. Und es ist so tief verankert, dass die japanischen Bürgerinnen und Bürger das eigentlich gar nicht mehr so realisieren als Lebensphilosophie, sondern es ist einfach Teil des Alltags. Und man sagt: “Was ist denn dein Ikigai?” – “Mein Ikigai ist der Tee, den ich mir selber mache, der Matcha, den ich mir selber mache. Es ist vielleicht einfach mein Gemüse im Garten ziehen.” Das sind diese ganz kleinen Formen von Ikigai und das hat sich dann letztlich gewandelt. Es ist dann in die westliche Kultur geströmt, worüber wir auch gleich noch sprechen werden. Aber das ist so der Grundgedanke. LMK: Du hast jetzt diese ganz kleinen Geschichten genannt. Ikigai kann aber auch etwas Größeres sein. AD: Genau. Ikigai kann natürlich etwas größer sein und ich verstehe Ikigai ganz gerne als eine Art Kompass, als Pfeil, der in einem drin auf etwas zeigt. Und das kann eine riesige Lebensrichtung sein. Das kann heißen: Ich möchte mit meinem Leben etwas Bestimmtes verändern oder bewegen. Aber es kann auch etwas ganz Kleines sein. Es kann auch eine kleine Freude des Alltags sein. Und gerade die westliche Kultur hat das natürlich gerne so interpretiert für Berufsorientierung: Ikigai ist dafür da, dass ich meinen perfekten Beruf finde. So ist es aber eigentlich im Ursprung gar nicht gedacht. Es ist letztlich so gedacht wie ein kleiner Kompass, der dir zeigt: In diese Richtung möchte ich mich bewegen. Das möchte ich tun. Dafür bin ich dankbar. LMK: Also ich kenne mein persönliches Ikigai noch nicht. Was muss ich tun, um das zu finden? AD: Wir können mal mit der westlichen Interpretation anfangen. Da gibt es dieses Wenn-Diagramm mit überschneidenden Kreisen – das ist ganz bekannt. Und nach dieser westlichen Interpretation stellt man sich vier Fragen. Und man stellt sich einmal die Frage: Was liebst du? Zum Beispiel könnte das bei dir Häkeln sein - das liebst du einfach in deinem Alltag. Dann ist die Frage: Was kannst du gut? Worin bist du gut? Und das verbindet sich dann mit der Frage: Was braucht die Welt? Also was braucht sozusagen diese ganze Umwelt, in der wir uns bewegen? Und dann dieser Aspekt: Womit kann ich Geld verdienen? Und idealerweise findest du die Schnittmenge zwischen diesen vier Fragen: Was liebst du? Was kannst du? Was braucht die Welt? Und womit kann ich Geld verdienen? Wenn du da eine Schnittmenge findest, dass du genau etwas tun kannst, das alle diese Fragen beantwortet, dann findest du dein Ikigai. Das ist sozusagen die westliche Interpretation davon. LMK: Und dann hätte ich auch meinen Traumjob, von dem ich leben kann und mit dem ich unglaublich glücklich werde. AD: Richtig - so zumindest die Theorie. LMK: Ikigai - das ist etwas, das aus der japanischen Kultur rübergewandert ist. Das wurde natürlich auch in erster Linie dort erforscht. Kann ich das denn jetzt einfach auf den deutschen Kontext übertragen - auf unseren Bildungsbereich, auf unseren Lebensbereich? Funktioniert das? AD: Grundsätzlich sind wir natürlich alle Menschen. Das heißt natürlich können wir Dinge, die für einen Menschen funktionieren, auch für andere Menschen übertragen. LMK: Aber die Kulturen sind ja schon sehr unterschiedlich. AD: Richtig, die Kulturen sind unterschiedlich. Wenn wir uns aber mal die Ikigai-Forschung anschauen, dann kann man da zum Beispiel Mieko Kamiya nennen, die 1966 schon erste Studien dazu gemacht hat in Okinawa, wo ein großer Anteil der über 100-Jährigen leben. Mieko Kamiya hat erforscht, wie der Zusammenhang zwischen Ikigai und zum Beispiel schwerkranken Menschen ist - also wie schwerkranke Menschen mit Ikigai mit ihrer Krankheit umgehen. Und das ist ganz spannend, weil hier eben herausgefunden wurde: Menschen, die Ikigai haben, also die von sich selber behaupten “Ich habe Ikigai”, die tun sich wesentlich leichter, mit Krankheiten umzugehen. Und diese Forschungen gibt es auch in ganz verschiedenen Bereichen. Es gibt auch Forschungen dazu, dass wenn Menschen berichten, dass sie Ikigai haben, dass sie dann weniger an Depressionen leiden oder dass eine geringere Mortalität vorliegt und generell in vielen Lebensbereichen einfach positiv gestimmt sind. Und dazu gibt es ganz viele Studien. Die wurden unter anderem auch in Metastudien zusammengebracht. Diese Studien sagen letztlich aus: Wenn man Ikigai im Leben hat, dann führt man ein glücklicheres Leben - ganz plakativ gesagt. LMK: Das heißt, Ikigai hilft uns für unser Glück im Leben. Hilft uns den Ikigai auch für den Bereich Bildung? AD: Normalerweise denken wir Bildung als eine Kombination aus Allgemeinbildung und Berufsvorbereitung. So steht das bei uns auch in den ganzen Gesetzen drin. Die weiterführenden Schulen sollen auf der einen Seite vorbereiten auf eine mögliche Hochschulbildung. Sie sollen vorbereiten auf Berufe und sie sollen natürlich Allgemeinbildung vermitteln. Und jetzt ist aber die Frage: Wir haben in einer anderen Folge darüber gesprochen, wie KI die Welt verändert und wie KI die Berufe verändert. Und wir sind unter anderem zu dem Schluss gekommen: Wir wissen doch gar nicht, welche Berufe es dann in zehn Jahren überhaupt noch gibt. Und jetzt kann man sich doch die Frage stellen: Müssen wir Bildung denn nicht komplett anders denken? Und es wäre doch eine interessante Annahme, wenn wir mal sagen: Warum ist die Aufgabe von Schule denn nicht, dass wir glückliche Menschen hervorbringen anstatt dass wir immer an Berufe gekoppelt denken, dass wir immer an Zukunftswege in irgendwelche Karriererichtungen denken? Das wäre ja eine Idee, dass man sagt: Wir möchten, dass unsere Schülerinnen und Schüler ihr Glück finden können. LMK: Das ist eine ganz spannende Idee. Wenn ich mir jetzt vorstelle, unser aktuelles Schulsystem müsste diese Aufgabe bewältigen. Das wäre ja jetzt so spontan einfach gar nicht zu lösen. Was müsste denn mit Schule passieren, damit das geschehen kann? Also was müsste man tun, um so eine Ikigai-Schule zu entwickeln, wie du das gerade beschrieben hast? AD: Wir können uns einmal anschauen, was denn Ikigai eigentlich ausmacht. Und da kann man zum Beispiel sich den Wissenschaftler Ken Mogi mal anschauen, der eins der bekanntesten Bücher zu Ikigai herausgebracht hat. Der hat zum Beispiel verschiedene Säulen des Ikigai formuliert, also sozusagen Leitlinien, die einem dabei helfen können, wie man dieses Ikigai, diesen Weg, diesen Kompass finden kann. Ich glaube, es wäre zu viel gesagt, wenn wir Schülerinnen und Schüler dazu befähigen können, dass sie auf jeden Fall ihren riesigen Lebensweg finden danach. Ich glaube, das ist zu viel verlangt. Aber wir können zumindest Werkzeuge an die Hand geben, wie sie ihren Lebensweg finden können. Und diese Säulen nach Ken Mogi sind zum Beispiel: Klein anfangen - das ist eine dieser Säulen. Man konzentriert sich auf die kleinen Dinge im Leben. Ich habe ganz lange Karate gemacht. Das kommt ja übrigens auch aus Okinawa. Und da ist eins der Dinge: Man macht eine bestimmte Technik und es macht einen riesigen Unterschied, ob du deine Hand ein kleines bisschen weiter nach links oder nach rechts neigst - und das sind die kleinen Dinge. Man konzentriert sich auf ganz, ganz kleine Dinge. Man kann sozusagen sagen: “Lay the brick is perfectly as the brick can be laid”. So ein einziger Aspekt - ich nehme mir einen einzigen Aspekt dieses Lebens raus. LMK: Wirklich auf ein Detail konzentrieren. AD: Genau, auf ein Detail konzentrieren. Und das ist so eine dieser Säulen. Und eine andere Säule ist zum Beispiel dieses Loslassen lernen. Loslassen lernen… LMK: … das ist in der heutigen Zeit wahnsinnig schwer. AD: Das ist unglaublich schwer und das spielt auch ein bisschen in die Spiritualität mit rein, weil man sagt: Ich versuche, mich von meinem Ego zu lösen. Ich versuche herauszufinden: Was will ich denn eigentlich in mir drin? Was will denn diese Stimme in mir? Wo leitet die mich eigentlich hin? Das ist ja ein Kernkonzept von diesem Ikigai, dass ich weiß: Da treibt es mich eigentlich wirklich hin, losgelöst von allen äußeren Einflüssen. LMK: Und von dem, was ich glaube tun zu müssen in dem Moment. AD: Richtig. Was natürlich auch durch Sozialisation geprägt ist, was durch ganz viele Kontextfaktoren geprägt ist. In der empirischen Bildungswissenschaft sprechen wir von einer psychologischen Suppe, die sich im Unterricht befindet. Und das sehen wir natürlich im Bildungsbereich ganz stark, dass wir von so vielen Kontextfaktoren geprägt sind, die uns immer wieder begleiten und die auch die Bildungsinhalte begleiten, die die Methoden begleiten, die alles begleitet, was uns irgendwie im Klassenzimmer beschäftigt. LMK: Jetzt hast du von mehreren Säulen gesprochen. AD: Genau. Das waren jetzt quasi zwei Säulen. Das war einmal dieses klein anfangen und das war dieses Loslassen lernen. Und wir haben dann zum Beispiel auch noch die Säulen Harmonie und Nachhaltigkeit. Und Harmonie und Nachhaltigkeit sagt letztlich aus: Ich möchte in Harmonie zum einen natürlich mit mir selbst leben, aber zum anderen auch mit der Welt. Und das ist diese Frage “Was braucht die Welt?” in dieser westlichen Interpretation. Ich übersetze es ganz gerne mit: Was ist mir wichtig? Was ist mir eigentlich an der Welt wichtig? In vielen Interviews zu Ikigai wird hier immer die Familie genannt. Das ist zum Beispiel ein ganz wesentlicher Kontextfaktor, aber es ist auch der Kontextfaktor Umwelt. Mir ist ganz wichtig, dass wir mit unserer Umwelt in Harmonie leben. Das ist eine weitere Säule. Und dann gibt es noch die Säule “Freude an kleinen Dingen”. Also das sieht man auch immer abseits dieser westlichen Interpretation von “mein riesiger Berufsweg”. Die Freude an kleinen Dingen im Sinne von “Ich mache mir meinen Kaffee und genieße diesen Kaffee für mich”. Und diese ganz kleinen Dinge - das sind eben auch Dinge, die wir in Schule integrieren müssen. Und das sagt auch sehr stark die letzte Säule aus: “Im Hier und Jetzt leben”. Viele Konzepte kommen ja aus dem asiatischen Raum und auch dieses ganze Achtsamkeitsprinzip, das kommt ja auch daher. Und diese ganzen Konzepte… Wenn wir versuchen können, die in den Schulalltag zu generieren, dass wir Schulen nicht von außen raus denken - nicht von “Welche Berufe müssen diese Menschen später tun können?” - sondern von innen heraus denken? Wenn wir es also schaffen, dass wir Bildung vom Menscheninnersten aus denken, dann glaube ich, kommen wir an einen ganz guten Weg. LMK: Jetzt hast du einiges erzählt davon, wie Bildung aus dem Menschen selbst heraus kommen soll. Jetzt haben wir künstliche Intelligenz, die uns ganz viele neue Möglichkeiten bietet. Könnte diese denn ein Werkzeug sein dafür, dass wir die Schule in die Richtung bekommen, wirklich individueller auf die Schülerinnen und Schüler zugeschnitten zu sein und ihnen auch bei ihrem persönlichen Weg zu helfen? AD: Ich denke, hier sieht man ganz stark diese Vernetzung von Weltgeschehen, von Technologie und von Bildung. Weil wir dadurch, dass wir jetzt diese Veränderungen in der Welt haben, Bildung neu denken müssen. Dadurch, dass wir Bildung neu denken, brauchen wir neue Methoden. Und diese neuen Methoden werden ermöglicht durch die Technologie: Die Idee der Individualisierung und die Idee der Differenzierung ist nichts Neues. Damit beschäftigen sich Pädagoginnen und Pädagogen seit Jahrzehnten. Es scheitert nur tatsächlich in der Praxis, denn wenn ich vor 30 Kindern stehe und ich soll denen irgendwie Lesen beibringen, ist es schwierig, dass ich jedem einzelnen Kind gerecht werde. Ich habe vielleicht Kinder dabei, die haben Deutsch als Zweitsprache. Ich habe Kinder dabei, die interessieren sich für völlig andere Themen. Nehmen wir mal ein Beispiel: Wir sind in der dritten Klasse einer Grundschule. Es gibt ein Lesebuch und damit beschäftigen wir uns jetzt mit der ganzen Klasse, damit die Klasse besser lesen lernt. Und dieses Buch heißt zum Beispiel “Max im Fußballfieber”. Und es geht darum, dass der kleine Max Fußball kennenlernt als neue Sportart und dann total im Fußballfieber ist. Und er steckt seine ganze Klasse damit an und alle spielen auf einmal Fußball und am Ende gewinnen sie das Fußballturnier. Eine wertvolle Geschichte über Freundschaft und über Zusammenhalt und über Leistungsbereitschaft und so weiter und so fort. Super wertvoll, aber wir haben natürlich ein Problem: Auf der einen Seite interessieren sich vielleicht 30 Prozent in meiner Klasse für Fußball, den anderen 70 Prozent ist Fußball völlig egal. Die wollen vielleicht lieber häkeln oder die wollen lieber … LMK: … Musik hören… AD: Ja genau - die wollen lieber Musik hören. LMK: …Tanzen…. AD: Tanzen, Geige spielen, Reiten, alles Mögliche. Und jetzt ist es doch eigentlich völlig egal, ob ich ein Buch über Max im Fußballfieber oder Lisa im Reitfieber lese. Die Geschichte dahinter und die Werte dahinter können genau die gleichen sein, aber für das einzelne Kind ist es extrem relevant. LMK: Und die Lehrer haben dadurch natürlich eine große Herausforderung. Denn wo bekommen sie die ganzen Materialien her? Das ist doch was, wo jetzt künstliche Intelligenz, aber auch OER, die offenen Bildungsmaterialien, helfen können. AD: Ganz genau. Also hier stehen wir vor dem Problem: Ich kann nicht für meine Klasse auf einmal 30 verschiedene Geschichten haben. Zumindest bis jetzt nicht. Jetzt haben wir auf einmal die Technologie, die es schaffen kann, 30 verschiedene Geschichten individualisiert auf die einzelnen Personen zu generieren. Und hier kommen wir eben genau an diesen Punkt. Weil - wenn wir wieder dieses westliche Modell nehmen - dann fragen wir: “Was liebst du und was interessiert dich denn als einzelne Person?” Dann haben wir eben einmal Fußball, dann haben wir einmal Häkeln, dann haben wir einmal Reiten und so weiter und so fort. Und hier kann KI helfen, dass wir interessensbasiert einzelne Materialien generieren können. Das gleiche haben wir natürlich auch auf der Begabungssebene. Die einen Kinder, die lesen schon total flüssig, und die anderen Kinder, die haben vielleicht noch Probleme. Oder sie Deutsch als Zweitsprache und brauchen einfach einen anderen Wortschatz. Und auch das kann natürlich KI generieren. Das heißt, KI kann hier wirklich helfen, in die Details zu gehen und Lernwege für Schülerinnen und Schüler zu generieren. LMK: Das erfordert natürlich auch großen Aufwand, die Schüler kennenzulernen und auch als Individuen zu sehen. Das ist etwas, das müssen natürlich die Lehrpersonen bestreiten. Kann KI auch dabei helfen, die Schüler einzuordnen? AD: KI kann natürlich helfen, Schülerinnen und Schüler einzuordnen, gerade wenn es um Leistungsniveaus geht. Aber letztlich wird es genau das sein, wo sich die Aufgabe der Lehrperson hin entwickeln wird: Und zwar in das Miteinander, in das persönliche Kennenlernen der Schülerinnen und Schüler. Weil das kann eine Lehrperson viel besser als eine KI. Natürlich kann eine KI dabei helfen, individualisiert Lernwege zu optimieren, Leistungen zu messen und darauf die Aufgaben-Schwierigkeiten anpassen. Aber letztlich die persönliche Einschätzung - die passiert im menschlichen Miteinander. Und ich glaube, genau da sehen wir die Lehrperson in der Zukunft. Also weniger als Star, der vorne steht und an der Tafel dann irgendwas anschreibt, sondern mehr als Lernbegleiter. LMK: Also die Lehrperson als Lernbegleiter lernt die Schülerinnen und Schüler besser kennen, schafft es, mit technischen Hilfsmitteln individuelle Unterrichtsmaterialien zu generieren. Mit den Lehrplänen, die wir heute alle haben, funktioniert das? AD: Ich glaube, wir müssen die Lehrpläne zuallererst mal sehr stark entschlacken. Wir haben sehr viele Inhalte drin, bei denen wir uns ganz gut überlegen müssen, ob die dann tatsächlich noch allgemeinbildend sind und ob die wirklich dazu notwendig sind, dass wir später mündige Bürger aus der Schule rausbringen. Und ich glaube, wenn wir über Bildungsinhalte sprechen, dann sprechen wir immer über das, was alle lernen müssen, wo wir sagen: Ohne diesen Bildungsinhalt sollte ein Mensch nicht in die Welt rausgehen. Was wir immer vernachlässigen ist aber die Begabungsförderung. Und die individuelle Begabungsförderung, die liegt im Individuum und in den eigenen Stärken und Interessen. Das ist quasi diese Verbindung aus: Was liebe ich und was kann ich gut? Und dort liegt irgendwo meine Begabung. Und um das rauszufinden, dafür braucht es Zeit. Dafür braucht es Raum. Und damit wir diesen Raum schaffen können, müssen wir eben an die Lehrpläne. Dafür müssen wir an die Curricula und uns wirklich Gedanken machen: Sind diese Inhalte denn wirklich so relevant, dass wir dafür die Begabungsförderung und die individuelle Förderung hinten anstellen? Und das ist eben eine große Frage. LMK: Also du meinst, Bildung muss sich verändern - auch dieser Fokus auf Allgemeinbildung, den wir bisher in der Schule hatten. Was sind denn Elemente einer Allgemeinbildung, die Schüler in Zukunft brauchen - gerade wenn sie auch im Kontext mit künstlicher Intelligenz und anderen technischen Möglichkeiten aufwachsen? Sind das vielleicht ganz andere Aspekte, die eine Allgemeinbildung, die in der Schule vermittelt wird, berücksichtigen muss in Zukunft? AD: Natürlich. Ich möchte der Allgemeinbildung, wie wir sie jetzt haben, auch gar nicht den Wert absprechen. Natürlich ist eine bestimmte Grundlage an Faktenwissen sehr relevant - also dass wir über verschiedene historische Ereignisse Bescheid wissen, dass wir in der Lage sind zu rechnen, dass wir in der Lage sind zu lesen, dass wir in der Lage sind zu schreiben. Natürlich ist das alles relevant, aber darüber hinaus sind natürlich auch ganz andere Dinge relevant. Kritisches Denken ist unglaublich wichtig - dass wir Aufgaben haben, dass wir Probleme sehen und die dann auch strukturiert lösen können; dass wir kreativ sind. Kreativität ist das, was den Menschen ausmacht. Kreativität ist das, was den Menschen noch über eine KI stellt - und natürlich auch die Zusammenarbeit, die Kollaboration, also wirklich gemeinsam an Dingen zu arbeiten. Und diese ganzen Aspekte, die müssen natürlich sehr stark mit in die Unterrichtsmethoden einfließen. Und in fünf bis zehn Jahren werden alle Lehrpersonen Learning Analysts sein oder Data Analysts. Und sie werden sozusagen ganz viele Daten über ihre Schülerinnen und Schüler haben und darauf basierend entscheiden können: Okay, jetzt bewegen wir uns mit diesem Kind in diese Richtung und mit diesem Kind in diese Richtung. Diese Konzepte sind nicht neu. Die haben natürlich in der Waldorf-Pädagogik, in der Montessori-Pädagogik schon ihre Wurzeln. Aber jetzt haben wir die technologischen Möglichkeiten, dass jede Lehrperson hier wirklich individuelle Förderung machen kann und wirklich zum Lernbegleiter oder zu Lernbegleiterin werden kann. Und hierüber können wir Allgemeinbildung auch in Unterricht bringen. Also wir können Allgemeinbildung immer koppeln an andere Inhalte, die dann wiederum zur Begabungsförderung dienen. LMK: Also die Lehrpläne müssten sich auf jeden Fall verändern in Zukunft. Wie ist das denn mit den Hausaufgaben? Hausaufgaben sind ja auch ein wichtiger Teil von Schule für uns heute. Wie müsste das in Zukunft gelöst werden? AD: Zum einen sind es natürlich die Lehrpläne an sich. Wir haben die Lehrpläne seit gut 200 Jahren relativ wenig angepasst: Ihr müsst etwas in diesen Fächern lernen. Die Lehrperson stellt das vorne vor und ihr macht dann Hausaufgaben dazu. Und diese Hausaufgaben waren, wie du sagst, bisher ein ganz zentraler Bestandteil unserer Bildung, weil wir einfach gesagt haben: Es ist wichtig, dass Kinder das zu Hause auch üben. Jetzt verändert sich das aus zwei Gründen. Zum einen aus dem Grund: Wenn wir in Richtung Begabungsförderung denken wollen, dann können wir auch gar keine individuellen Hausaufgaben aufgeben. Das können die Leute zwar zu Hause machen, aber vielleicht machen die das dann auch mit ChatGPT oder irgendeiner anderen KI. Diese Hilfe gab es schon früher und die hat sich einfach “helfende Eltern” genannt. Nur jetzt ist es natürlich ein bisschen prävalenter. LMK: Es ist einfach viel leichter zugänglich. AD: Genau. Es ist viel leichter zugänglich. Und es gibt dieses Zitat: “ChatGPT ist wie helfende Eltern, nur das ChatGPT für alle da ist”. Das heißt, wir müssen uns Gedanken machen: Was heißt das denn, wenn wir jetzt gar nicht mehr davon ausgehen können, dass die Kinder diese Hausaufgaben auch tatsächlich selber machen? Weil zum Beispiel in einem Elternhaus, in dem die Eltern einen großen Wert auf Bildung legen, da werden sie auch aufpassen, dass ihr Kind die Hausaufgaben auch wirklich selbst macht. Aber letztlich führt das nur dazu, dass die Bildungsschere weiter auseinandergeht. Weil natürlich die Eltern, die keine Zeit haben, auf die Kinder aufzupassen, wenn sie ihre Hausaufgaben machen, die werden dann natürlich auch nicht intervenieren, wenn das Kind dann auf einmal mit ChatGPT die Hausaufgaben macht. Das wechselwirkt natürlich mit der Idee von Individualisierung. Weil wenn wir nämlich individualisierte Lernprozesse haben, dann sollte ja auch jedes Kind irgendetwas anderes lernen, irgendetwas anderes tun. Und die Lösung dafür nennt sich Flipped Classroom. LMK: Was genau ist das? AD: Dieses Konzept, wie der Name schon sagt, dreht sozusagen das Klassenzimmer um, es dreht den Unterricht um. Normalerweise funktioniert die inhaltliche Vermittlung im Klassenzimmer und zu Hause wird geübt. Und dieses Konzept dreht sich das Ganze. Die Inhalte, die werden zu Hause gemacht. Das heißt, jedes Kind eignet sich selbst die Unterrichtsinhalte an, zum Beispiel über bereitgestellte Materialien, über Lehrbücher. Das können Lernvideos sein, das können aber auch zum Beispiel KI-Assistenten sein, die einem ein neues Thema erklären. Ist natürlich ganz praktisch, weil im Unterricht kann die Lehrperson natürlich bestimmen: Diese Medien werden verwendet, diese Medien werden nicht verwendet. Zum Beispiel wenn wir jetzt bei Aufgaben sind: Hier dürft ihr jetzt kein ChatGPT oder Sprachmodelle oder wie auch immer verwenden. Das erfordert natürlich einiges: Es erfordert auf der einen Seite Selbstlernmaterial. Und diese Selbstlernmaterialien, das kann alles Mögliche sein - das können Arbeitsblätter sein, das können Bücher sein, das können Lernvideos sein, es können Apps sein, das können KI-Assistenten sein, die wiederum den Lernweg dann personalisieren. LMK: Da können ja auch offene Bildungsmaterialien dabei helfen. AD: Ganz genau. Das ist einer der riesigen Vorteile von OER, dass die OER bereitgestellt werden können und dann von den Schülerinnen und Schülern genutzt werden können, so wie eben die Bedarfe sind. Und ich glaube, dass OER gerade dort eine ganz wichtige Aufgabe erfüllen, dass sie eben bedarfsorientiert zu den Lernprozessen der Schülerinnen und Schüler eingesetzt werden können. Weil wenn man ausschließlich kommerzielle Materialien nutzt, dann ist das einfach eine gigantische Dimension, dass wir für jeden Schüler und jede Schülerin individuell Material bereitstellen. Mit OER lösen wir dieses Problem. Und das braucht natürlich neue Kompetenzen, weil wir brauchen dann eine Selbstlernkompetenz. Und die Schülerinnen und Schüler müssen reflektieren können: Was kann ich denn jetzt schon? Habe ich dieses neue Themengebiet verstanden oder nicht? Es braucht also sehr viel wirklich Reflexionsfähigkeit über den eigenen Lernprozess. Und das ist eine große Herausforderung. Und wenn man das integrieren will, dann muss man das von der Grundschule an fördern. Es ist nichts, was sich so einfach ergibt. Und gerade wenn man heutzutage in die Bildungslandschaft schaut, dann denkt man sich: Kann das überhaupt funktionieren? Ja, es kann funktionieren, wenn man es eben von klein auf übt. LMK: Das heißt, die Lehrer sollten von klein auf den Schülern beibringen, sich selber besser einzuschätzen und einzuordnen. AD: Genau. Das spielt natürlich wieder in das gesamte Thema “sich selbst kennenlernen” mit rein. Und hier schließt sich auch wieder der Kreis zu: Ich muss verstehen, was ich will und was ich kann. Wo will ich eigentlich hin mit meinem Leben? In dem Rahmen, einfach nur im Kleinen, und zwar in meinem eigenen Lernprozess: Wo bin ich und wo will ich hin? Und hier sieht man diese ganzen Verschränkungen wieder mit dem “Bildung von innen heraus denken”. LMK: Das heißt einerseits einordnen: Wo bin ich im Bereich Bildung? Und andererseits aber auch: Warum mache ich das hier? Wofür brenne ich und wo will ich hin? Das sind ja mehrere Einordnungen, die da gleichzeitig stattfinden. AD: Genau. Und hier sehen wir auch ganz viele didaktische Methoden, die sich orientieren in Richtung erfahrungsbasiertes Lernen, situiertes Lernen - dass wir ganz konkrete Erfahrungen wollen, mit denen die Schülerinnen und Schüler auch was anfangen können, weil sie sehen: Das hat für mich selbst einen Mehrwert. Ich lerne das nicht nur, weil es in irgendeinem Curriculum steht, sondern ich lerne das, weil es für mich selbst einen Mehrwert bringt. LMK: Jetzt haben wir “Flipped Classroom” diskutiert. Es gibt da noch was, was jetzt auch schon so ein bisschen entwickelt wurde und im Einsatz ist. Das sind intelligente Tutorsysteme. Kannst du da ein bisschen was zu erzählen? Wie genau funktioniert das und wie wird das heute schon genutzt? AD: Ja, wir hatten vorhin schon darüber gesprochen, dass Lehrpersonen in ein paar Jahren Data Analysts oder Learning Analysts sein werden. Und die intelligenten tutoriellen Systeme, die spielen natürlich genau dort rein. Die analysieren die Daten der Schülerinnen und Schüler, also den Lernprozess, und versuchen dann darauf basierend sinnvolle Lernwege vorzuschlagen und sinnvolle neue Aufgaben vorzuschlagen. Und mit dem Ganzen schwingt natürlich eine Sorge einher, und zwar die Sorge: Was passiert denn, wenn ich den kompletten Bildungsprozess an eine Maschine auslagere? Es gab schon pädagogische Ansätze, schon vor Jahrzehnten, die kommen aus der Kybernetik und damals ist man mit Lernmaschinen an die Schule gegangen und hat genau das versucht. Und hier muss man unterscheiden, ob man den Bildungsprozess komplett auslagert an eine Maschine und sagt: Okay, wir vertrauen der Maschine, dass die Maschine deinen perfekten Lernweg findet. Oder ob wir sagen: Wir haben hier ein System, ein intelligentes tutorielles System - ein System, das eben Lernwege bereitstellen kann. Aber das ist nur ein Angebot und die tatsächliche Nutzung wird dann letztlich von den Schülerinnen und Schülern entschieden in Zusammenspiel mit den Lehrpersonen, mit der pädagogischen Einschätzung. Das ist ja wirklich die Aufgabe der Lehrperson als Lernbegleiter mit der pädagogischen Einschätzung: Das, glaube ich, kann für dich sinnvoll sein. LMK: Und gibts das heute schon für alle Schulfächer oder wird das gerade ausprobiert? Wird das entwickelt? AD: Die meisten Ansätze sind noch experimentell. Also es gibt viele tutorielle Systeme, auch wenn sie oft nicht so bezeichnet warden - verschiedene Lernapps wie die ANTON-App zum Beispiel. Das sind alles Apps, die passen sich an den Lernfortschritt der Lernenden an. Hier gibt es ein riesiges Potenzial dafür, dass wir eben Lernfortschritte perfekt an die kognitiven Voraussetzungen anpassen können. Aber es muss natürlich trotzdem im Unterricht gemeinsam mit einer Lehrperson eingesetzt werden. Also es funktioniert bis zu einem begrenzten Maße, wenn die Schülerinnen und Schüler individuell damit lernen. Aber letztlich muss es eben eine pädagogische Begleitung haben. LMK: Das bedeutet, erste Ansätze, das auszuprobieren, gibt es. Aber bis das so wirklich an den Schulen ankommt, wird es noch eine Weile dauern und muss noch einiges getan werden. AD: Richtig. LMK: Jetzt hast du ganz viel darüber erzählt, dass du dir wünschst, dass Bildung wirklich aus dem Menschen heraus gedacht wird - sowohl was Kompetenzen angeht als auch was Leidenschaften angeht. Was ist denn dann das Ergebnis davon? Was passiert denn dann mit den Menschen? Wie geht das dann nach der Schule weiter? Hast du eine Idee? Sind das dann lauter Menschen, die nur einen Blick für sich selber haben? Wie funktionieren die zusammen in der Gesellschaft, in einer Gemeinschaft? AD: Das ist eine super spannende Frage, weil natürlich hier eine der riesigen Sorgen liegt vor dieser ganz starken Individualisierung, vor dieser ganz starken Selbststeuerung. Dann haben wir am Ende nur noch Individualisten. Und im Moment ist das Bildungssystem darauf ausgelegt, dass wir möglichst eine homogene Masse aus der Schule entlassen. Natürlich haben wir im Bildungssystem eine gewisse Selektionsfunktion. Wir versuchen, die Leistungsstarken auszuwählen. Wir haben eine gewisse Allokationsfunktion, das heißt, wir versuchen, die Kinder in die richtige Richtung zu lenken. Deswegen haben wir auch verschiedene Schularten, deswegen haben wir verschiedene Zweige. Aber letztlich, wenn wir dieses Bildungssystem umstülpen und wirklich in die Selbststeuerung gehen. Dann stehen wir vor dem Problem: Haben wir denn dann nicht nur Leute, die nur noch an sich selber denken? Und hier kommt aber genau wieder der Kern des Menschseins ins Spiel. Weil Menschen sind von ihrem Kern aus Gemeinschaftstiere. Wir wollen in Gemeinschaften leben, wir wollen gemeinsam mit anderen Menschen arbeiten. Wenn wir zum Beispiel konkret in Unterricht einsteigen und über Methoden sprechen, dann haben wir zum Beispiel die Projektmethode, wo natürlich kollaborativ zusammengearbeitet wird. Und Probleme aus der realen Welt können wir gar nicht individuell lösen. Wir brauchen immer Teams, wir brauchen immer Kompetenzen von ganz verschiedenen Menschen. Wir brauchen Begabungen, die wir kombinieren können. Und das ist natürlich genauso wichtig, dass wir das schon im Schulkontext fördern, dass wir sehen: Du hast eine Begabung in diesem Bereich, du hast eine Begabung in diesem Bereich, und wenn wir das zusammenbringen, dann schaffen wir etwas Neues. Es ist ja dieses Transdisziplinäre, von dem man ganz gerne spricht. Wir schaffen etwas Neues, indem wir unsere Begabungen kombinieren und dadurch zum Beispiel ein Projekt umsetzen, was für die Gesellschaft einen Mehrwert hat. Und da gehen wir auch in Richtung Wertorientierung. Also das war ja wieder, wenn wir über Ikigai sprechen, diese spannende Frage: Was ist mir eigentlich wichtig? Was mir wichtig an der Welt und was möchte ich der Welt auch zurückgeben? Und jeder Mensch hat Dinge, die ihm oder ihr wichtig sind. Und wenn wir die in Projekten zusammenbringen und dadurch einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen können, dann umgehen wir genau dieses Problem. LMK: Jetzt sind das wirklich viele Dinge, die da zusammenspielen. Ich frage mich gerade, wie bekommt man das gelöst, wenn man an das Thema Prüfungen herangeht? Prüfungen sind heute natürlich ein wichtiger Bestandteil von Schule, von Ausbildung. Wie kann man das denn in irgendeiner Form überprüfen, wenn man so eine kollaborative Arbeit gemeinsam gemacht hat? Oder ist das denn überhaupt sinnvoll, da noch so in Richtung Prüfungen zu denken? AD: Du sprichst natürlich alle wunden Punkte des aktuellen Bildungssystems an. Und genau das sind natürlich auch die Befürchtungen von Lehrpersonen, von Schulleitungen. Was passiert denn, wenn wir Bildung neu denken, wenn wir die Inhalte neu denken, wenn wir individualisiert denken, wenn wir den Lernprozess auf einmal nach Hause verlagern, wenn wir dann im Unterricht nur noch gemeinsam üben, wenn wir die Lehrpersonen als Lernbegleitenden sehen - was passiert denn dann mit den Noten? Die Schülerinnen und Schüler müssen ja mit Noten rausgehen, damit sie dann weiter ihre Hochschulbildung machen können. Ja, auf der einen Seite müssen wir natürlich auch das Hochschulsystem neu denken. Das ist der eine Punkt. Aber auf der anderen Seite - selbst wenn wir das jetzt mal beibehalten und sagen wollen: Ja, wir wollen die Schülerinnen Schüler auf jeden Fall mit Noten rausschicken, dann haben wir auf der einen Seite mehr Spielraum, als wir denken. Also wir sind nicht unbedingt an diese ganzen Klausurformen gebunden und wir können Leistung auch tatsächlich durch Gespräche messen. Und sogenannte Kompetenzraster können von Lehrpersonen verwendet werden, nicht in einer konkreten Prüfungssituation, sondern über das ganze Jahr hinweg verteilt. Das heißt, wenn wir einen Katalog haben von Kompetenzen und wir sagen, diese Kompetenzen sind allgemeinbildend, dann müssen diesen Katalog irgendwann alle Schülerinnen und Schüler erfüllen. Und die Aufgabe der Kompetenzmessung liegt natürlich nach wie vor bei der Lehrperson. Die Schülerinnen und Schüler können dann zu der Lehrperson hinkommen und sagen: Ich bin bereit, mir diese Kompetenz abprüfen zu lassen. Und dann kann es zum Beispiel eine Klausur sein, die dann gestellt wird. Aber das kann natürlich auch einfach ein Gespräch sein. Und das wäre das, wo ich mich ganz gerne hin orientieren würde - in Richtung Kompetenzgespräche. Also wir führen ein Gespräch auf Augenhöhe, weil das ist doch eigentlich das, wo wir hinwollen. Wir wollen, dass wir in einem bestimmten Bereich - zum Beispiel im Fach Physik - auf Augenhöhe ein Gespräch mit einem Experten oder einer Expertin führen können. Und das ist in dem Fall eben die Lehrperson. Und wenn die Lehrperson sagt: Okay, dieses Gespräch war tatsächlich auf Augenhöhe. Dieses Gespräch hat gezeigt, dass dieser Schüler diese Kompetenz beherrscht, dann kommt ein Haken in dieses Kompetenzraster rein und damit ist diese Kompetenz erfüllt. Und das wäre eben eine Idee, wie man das Prüfungssystem neu denken kann. Das führt natürlich trotzdem noch dazu, dass wir vor dem Problem stehen: Wie können wir Projekte bewerten? Aber auch hier: Ich glaube, dass wir sehr viel mehr auch hier in das Miteinander gehen. Das heißt, dass wir hier sehr viel mehr in Gespräche gehen, dass wir über das Projekt berichten, dass wir erzählen, was genau wir gemacht haben, damit wir dieses Projekt umsetzen können. Und das kann auch wieder von einer Lehrperson bewertet werden. LMK: Und schriftliche Prüfungen - sind die dann ganz raus? AD: Es muss nicht unbedingt sein. Ich sage mal, es kommt natürlich immer auf die konkrete Kompetenz an: Im Mathematikunterricht macht eine schriftliche Prüfung vielleicht sogar mehr Sinn. Wir haben natürlich einen großen Vorteil von schriftlichen Prüfungen, und zwar Objektivität. Diese Objektivität, da haben Kinder natürlich zu Recht Angst davor, wenn irgendein Lehrer sie auf dem Kieker hat, dann besteht natürlich die berechtigte Angst, dass man dann deswegen eine schlechtere Note bekommt. Aber auch hier können zum Beispiel KI-Systeme helfen. LMK: Wie können die helfen? AD: Naja, zum Beispiel können wir KI-Assistenten bauen, mit denen wir dann chatten können oder mit denen wir auch live sprechen können. Wir sind ja mittlerweile schon so weit, dass wir auch tatsächlich Gespräche führen können. Und wenn diese KI-Systeme von den Lehrpersonen gebaut werden unter Berücksichtigung der Kompetenzziele, die die Schülerinnen und Schüler erreichen sollen, also zum Beispiel: Die Schülerinnen und Schüler sollen in der Lage sein, ein Gedicht zu analysieren. Ich stell das jetzt einfach mal als ein Beispiel dar. Dann kann hier genau ein KI-System im Hintergrund sein und ein Gespräch mit dem Schüler oder der Schülerin führen, basierend auf einem Leitfaden, der eben bereitgestellt wird von der Lehrperson. Und dann kann die Bewertung dieses Gesprächs - es ist nach wie vor ein Gespräch, ein Kompetenzgespräch - von einer Lehrperson durchgeführt werden, aber sie kann auch von zwei Lehrpersonen durchgeführt werden, damit man eben diese Objektivität beibehält. Und so kann man eben diese Möglichkeiten der Kompetenzraster mit mündlichen Prüfungen kombinieren. Wenn wir KI-Systeme einsetzen und das ist - ich weiß, das ist ein ziemlich großer Gedankensprung - aber hier kommt wieder alles zusammen. LMK: Es ist Wahnsinn, was da jetzt schon möglich ist und was in Zukunft noch möglich sein wird und was wir alles nutzen können. Also für eine Ikigai-Schule in unserer Zukunft, da müssten wir rangehen an die Benotungssysteme, die Prüfungssysteme, an die Themen Hausaufgaben und Unterrichtsmethodik, an die Rolle der Lehrperson. Wir müssten alles neu denken. Und dann könnten wir vielleicht tatsächlich irgendwann in Zukunft eine Ikigai-Schule haben. Und weil da einfach so riesig viele Materialien benötigt würden, bietet KI uns da eine ganz große Chance. Aber nicht nur KI, sondern auch OER, die offenen Bildungsmaterialien, die können uns dabei helfen. Und wer mehr wissen möchte zum Thema OER-Strategie, der kann im Internet weitere Informationen finden unter www.oer-strategie.de. Vielen Dank für das Gespräch, Andy. AD: Vielen Dank für die Einladung. LMK: Wir sind jetzt am Ende dieser Folge angekommen. Wir werden uns aber weiterhin über das Thema KI unterhalten und was das mit uns als Menschen macht, mit uns als mündigen Menschen und mit uns als gebildeten Menschen. Was da so alles mit hineinspielt und wie sich unsere technologisierte Zukunft entwickeln könnte, darüber sprechen wir dann demnächst. Sprecher: “Bildung, Lebenssinn und Technologie - wie KI und OER helfen können”. Eine Produktion der Sendeeinheit im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend.